GRUPPENAUSSTELLUNG
SPITALHOF REUTLINGEN
BARBARA KRÄMER - KUNSTHISTORIKERIN MA
Heidi Degenhardt, die mit ihrer Arbeit „Chapeau“, im Sinne eines anerkennenden „Hut ab!“, die passenderweise am heutigen 23.11. im Jahr 1888 geborene Schwester der Bildhauerin Maria Rupp und heute in Vergessenheit geratene Schriftstellerin Elisabeth Gerdts-Rupp ins Licht rückt. In drei hauchzart gearbeiteten, farbig fein akzentuierten Porzellanzylindern erleben wir auf faszinierende Weise den Weg von der Idee über die Ausführung bis zum geschriebenen Text mit. Auch die zwei-te Arbeit von Heidi Degenhardt beschäftigt sich mit in Vergessenheit geratenen Men-schen, fasst es in dieser Arbeit jedoch allgemeingültiger. Sobald das Licht an ist, wir erleuchtet, ins Licht gerückt werden, geraten wir nicht in Vergessenheit, zumindest ein Schatten von unserem Selbst ist immer sichtbar. Die Paarungen Mann und Frau, Vater und Mutter, Jung und Alt, Freund und Nichtfreund, Toter und Lebendiger werden so zu einer im Licht schimmernden Skizze des Lebens.
EINZELAUSSTELLUNG
GALERIE IM GEWÖLBE, REUTLINGEN
BARBARA KRÄMER - KUNSTHISTORIKERIN MA
Guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Frau Haap und natürlich – als Hauptperson des heutigen Abends – liebe Heidi Degenhardt,
Yoko Ono, die Witwe von John Lennon, hat einmal den bemerkenswerten Satz gesagt, dass man sich – beim Betrachten guter Kunst - fühle, als ob man versuche, circa einen halben Zentimeter über dem Boden zu schweben. Spüren Sie es schon, heben Sie schon ab? Also, bei mir wirkt die Feststellung...
Die in Wannweil lebende Keramik-, Porzellan- und Papierkünstlerin Heidi Degenhardt bereichert mit ihren Kunstwerken heute und in den nächsten vier Wochen das kleine, aber feine Kellergewölbe der Buchhandlung Osiander. Der im Übrigen, heute in Gestalt von Frau Ingrid Haap, auch einmal öffentlich ganz herzlich gedankt werden soll für Ihr großes Engagement in Sachen Kunst – das ist alles andere als selbstverständlich. Und nicht nur nach der langen Corona-Pandemie-Durststrecke seit März 2020, in der Künstlerinnen und Künstler leider nicht immer und überall den „systemrelevanten“ Platz in der Gesellschaft zugewiesen bekommen haben, der ihnen eigentlich zusteht, ist dies besonders schön und erfreulich. Wir waren ja echt ausgehungert.
Reutlingerinnen und Reutlinger kennen den Namen „Degenhardt“ seit vielen, vielen Jahren. Zuerst trat „Manfred“ in Erscheinung, der Lehrer und Grafiker, dessen Werke die Wände so mancher Häuser und Wohnungen hier in der Region schmücken und der auch im öffentlichen Raum mit seinen Werken prominent vertreten ist. Und gleichberechtigt daneben seit vielen Jahren „Heidi“, die neben ihrer intensiven künstlerischen Arbeit speziell vielen Wannweiler Kindern auch durch ihre phantasievollen Töpferkurse und Kinderkunst-Angebote sowie durch ihren verzauberten Garten oberhalb des Hauses bestens bekannt ist. Kinder für Kunst zu begeistern, ist übrigens eine ganz spezielle Gabe, die Heidi Degenhardt, die gelernte Erzieherin, die später mit einem Studium an der Freien Kunstakademie in Nürtingen professionell auf Kunst umgesattelt ist, erfreulicher- und beeindruckenderweise aus dem EffEff beherrscht.
Wir erleben sie heute Abend dagegen als Künstlerin, die Erwachsenen etwas zu sagen hat und die speziell in den letzten Jahren zu ihrer ganz eigenen Formsprache gefunden hat. Was verbinden Sie – ganz spontan gefragt – mit der Künstlerin Degenhardt? Nicht wenige von Ihnen würden vermutlich „fragiles, durchscheinendes Porzellan“ an erster Stelle nennen. Und haben damit absolut Recht, denn Heidi Degenhardt hat sich mit vielen ihrer Werke in Sphären vorgewagt, die brenntechnisch eigentlich gar nicht mehr vorstellbar sind. Und die durch ihre erfindungsreichen Techniken auch ausgewiesene Fachleute überraschen und begeistern. Orike Muth, eine Textildesignerin aus Hannover, sagte neulich in einem Interview: „Je älter ich werde, desto experimenteller möchte ich arbeiten. Man muss seiner Inspiration folgen und seine Ideen in die Welt setzen, auch wenn sie vielleicht ungewöhnlich sind.“ Das Ergebnis dieser Auffassung, der sich Heidi Degenhardt sicher eins zu eins anschließen kann, sehen Sie hier in dieser Ausstellung. Degenhardt kam, nachdem der erste Corona-Schock und die damit verbundene Schockstarre überstanden war, in einen regelrechten Arbeitsrausch und lebte in ihrer Werkstatt ihre spielerisch neugierige experimentelle Art zu arbeiten ausgiebig aus. Äußerst dankbar ist sie auch über ein Arbeits-Stipendium des Baden-Württembergischen Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst. Eine Projektförderung, die bestärkt und einfach gut tut.
Die Künstlerin Degenhardt traut sich was – sie geht in der Regel quasi ohne Lehrbuch vor, sie probiert und probiert und probiert und liegt damit intuitiv richtig. So sind zum Beispiel Moos, Papier, Cornflakes, Brotkrümel, der Inhalt ihres Staubsaugerbeutels, Weizenähren oder Gehäkeltes nicht davor gefeit, bei ihr und durch sie unversehens zur Kunst zu mutieren und später ausgestellt zu werden. Ich glaube, es ist spannend, als „Ding“ im Haushalt Degenhardt zu leben... Ein Hauch von Nichts und doch Allem entsteht so unter Degenhardts Händen, denn die Welt, die Natur in ihrer ganzen Fülle schimmert in und hinter den Gefäßen und Gebilden Degenhardts und braucht in der Regel nicht einmal Farbe, um das darzustellen, was ist.
Der Begriff der ‚Kunst‘ existiert übrigens erst seit circa 1000 Jahren. Er stammt aus dem Althochdeutschen und bedeutet in etwa „das, was man beherrscht.“ Wir bewerten Kunst heute nach ihrer Fähigkeit, uns anzusprechen, zu berühren, zu bewegen, nachdenklich zu machen. Kunst regt an, strahlt bestimmte Attribute aus, polarisiert und motiviert. Verführt sie uns auch, bringt sie uns in eine positive Grundhaltung?
„Die Kunst steckt in der Natur; wer sie herausreißen kann, der hat sie.“ Das Zitat des aktuellen Geburtstagskindes Albrecht Dürer, der dieses Jahr 550 Jahre alt geworden wäre,
beschreibt Heidi Degenhardts Kunst treffend. Sie destilliert in ihren Arbeiten, die sehr häufig nach behutsamer Naturbeobachtung und einer großen Kenntnis botanischer Vorgänge heraus entstehen, das Wichtige heraus. Degenhardts Werke stehen für ihren ernsthaften intellektuellen Anspruch, sie bildet nicht kommentarlos ab, sondern sie bettet ihre gedankliche Vorleistung in feingliedrige Leichtigkeit mit hoher Ästhetik. Ihr übergreifendes Thema ist gerade in den letzten Jahren die unabdingbare Vergänglichkeit, die Veränderung, der die Natur sowie wir Menschen im Laufe unseres Lebens automatisch unterworfen sind. Im weitgehenden Verzicht auf Farbigkeit bringt uns Degenhardt die zunehmende Verletzlichkeit der Natur in unschuldigem Weiß nahe. Leuchtendes Weiß – übrigens in den Augen Johann Wolfgang von Goethes die Farbe der Göttlichkeit.
Und sie mahnt uns gerade mit ihren stillen Arbeiten, die eben nicht marktschreierisch, sondern eindringlich daherkommen, die Absolutheit der Schöpfung und ihre Genialität deutlich mehr zu achten als wir das in unserem Größenwahn seit der Industrialisierung tun, als ob wir eine zweite Welt in der Schublade hätten. Gerade auch ihre Arbeit „Urzellen“, bei der sie Porzellan mit Fiberglas kombiniert, deutet in diese Richtung und kombiniert unsichtbare Verletzlichkeit mit sichtbarer Schönheit.
So übersetzt sie zum Beispiel in ihrer Arbeit „Kapselfrucht“ wirkmächtig einen botanischen Entwicklungsprozess: Streufrüchte öffnen sich und setzen Samen frei, ein Zeichen von Werden und Vergehen. Sie zersägt dazu eigens hergestellte Gipsformen, raspelt und schleift sie und gießt sie anschließend mit Porzellan aus: haptische Anmutungen an in der Natur ablaufende Vorgänge. Übrigens steht ihnen Heidi Degenhardt im Anschluss sehr gerne Rede und Antwort, wenn Sie Fragen zu ihrem speziellen Arbeitsprozess haben; das ist echt spannend. Auch bei ihrem Werk „Porifera“ findet Degenhardt einen ganz eigenen Weg. Porifera sind aquatische sessile Lebewesen, die einen eminent wichtigen Beitrag zu einem gesunden Meeresklima liefern. Sie verarbeitet die bedrohte Schwammart, indem sie sie in flüssiges Porzellan taucht, drückt und tränkt, um dieses Gebilde anschließend bei sehr hohen Temperaturen zu brennen. Eine fragile Porzellanskulptur mit unverkennbarem Charakter entsteht mit sichtbaren Meeres-Strömungen im zarten Porzellan-Gespinst. So weist sie mit ihren aparten Kunstwerken metaphorisch auf die schützenswerte Schönheit der Natur hin. Auch ihre Arbeit „Zeitspur“, bei der sie echtes Blattgold verwendet (und diese schlichte Kombination von Weiß und Gold ist einfach unverschämt schön!), greift diesen transformatorischen Prozess auf - was passiert in der Zukunft? Tauchen neue Formen, neue Fragestellungen auf, die für uns immer neue Zeitspuren legen? Heidi Degenhardts Antwort auf diese drängenden Fragen ist dialektisch: hauchdünn, zart, gebrechlich oder doch stabil, fest und transparent. Es ist ein künstlerisches Statement zu einer ungewissen Zukunft: Die Natur stellt ihre Stacheln auf.
In den keramischen Arbeiten von Heidi Degenhardt vereinbart sich ebenfalls das scheinbar Gegensätzliche zu einer gelungenen Symbiose. Sie arbeitet themenbezogen mit einem Material, das für die Ewigkeit gemacht ist und uns seit Urzeiten vertraut ist. Jeder Mensch ist den Naturgewalten Wasser, Feuer, Erde, Luft ausgesetzt, Degenhardt bedient sich genau derer als Künstlerin. Als Keramikerin formt sie Erde, die an der Luft trocknet und im Ofen gebrannt wird. Sie hebt diesen Werkstoff künstlerisch auf eine aktuelle Zeitschiene. Sie liebt technische Herausforderungen und testet ihr Material immer wieder neu und spannend aus. Dabei interessiert sie die „Haut“ ihrer Plastiken besonders. Alle Oberflächen resultieren aus ihren physikalischen Eigenschaften. Wir nehmen nämlich zunächst die Oberfläche eines Objekts wahr, deuten und beurteilen sie. Erst dann verstehen wir sukzessive, was dahinterliegt.
„Nicht die Abbildung der Wirklichkeit ist das Ziel der Kunst, sondern die Erschaffung einer eigenen Welt“. Diese Auffassung vertritt der 1932 geborene kolumbianische Maler und Bildhauer Fernando Botero. In dieser Ausstellung ist ein Teil des Degenhardt’schen Kosmos sichtbar, eine ganz eigene Atmosphäre verströmend. „Porzellan, das weiße Gold“ ist der Titel dieser Ausstellung und damit natürlich eine Anspielung auf Johann Friedrich Böttger (1682-1719), der eigentlich auf der Suche nach einer Substanz war, aus der sich Gold herstellen ließe und dabei „aus Versehen“ im Mai 1706 Erfolg beim Brand von rotem Porzellan hatte und somit erstmals das chinesische Porzellan-Herstellungsprinzip in Europa nachstellen konnte. Die weiteren Forschungen von Böttger konzentrierten sich fortan auf die Verfeinerung der Herstellung von Porzellan. Ende des Jahres 1706 glückte ihm erstmals, weißes europäisches Hartporzellan herzustellen. Zwei Jahre später gelang noch die Herstellung einer entsprechenden Glasur, die den Grundstein für die Gründung der Porzellanmanufaktur Meißen im Jahr 1710 legte. Eine Vase aus sogenanntem Böttgerporzellan, datiert zwischen 1713 und 1720, schlicht weiß mit außen angebrachten Weinreben, führt uns zu der neunteiligen aktuellen Vasen-Serie. Dieser Serie sieht man die oben erwähnte Experimentierfreude von Heidi Degenhardt an: die Künstlerin drückt, quetscht, bearbeitet ihre Vasenmodelle mit Verve, unterschiedlich mit Noppen oder Zapfen
gestaltet, sie schreckt sogar vor dem Fallenlassen nicht zurück. In Japan gibt es die traditionelle Kunst des Rissekittens, Kintsugi: mit dieser speziellen Methode wird zerbrochenes Geschirr repariert. Aus Scherben werden Kunstwerke, die oft schöner und wertiger sind als das heile Original. Anstatt Porzellan möglichst unsichtbar zu kitten, werden die feinen Risse oder Bruchspuren zum Beispiel durch Gold hervorgehoben. Damit sind wir bei der zweiten Farbe, die heute im Mittelpunkt steht: Gold. Diese Farbe hat ihren Namen nach dem gleichnamigen Edelmetall und steht symbolisch für das Beste, für eine Spitzenleistung, passend zu den gerade stattfindenden Olympischen Spielen in Tokio. Das Pigment gibt es als „Echtgold“ auf der Basis von zerstäubtem Blattgold oder als Metalleffektpigment. Ist die Beschränkung auf eine Farbigkeit zwischen Weiß und Gold ein Verzicht oder vielmehr ein Gewinn? Überprüfen Sie diese Fragestellung doch vielleicht am besten an der Arbeit „Das weiße Gold“, dann fällt die Antwort – angesichts dieser schlichten künstlerischen Eleganz - einstimmig aus, oder nicht? Weiß ist die hellste aller Farben, eine unbunte Farbe, die aus einem Gemisch von Einzelfarben entsteht, das den gleichen Farbeindruck hervorruft wie Sonnenlicht. Weiß wird in unserem Kulturkreis häufig mit dem Begriff ‚Freude‘ assoziiert, neben Unschuld, Reinheit oder Jungfräulichkeit. Die Kombination von Weiß und Gold steht bei Degenhardt für Prägnanz, für eine künstlerisch stringente Aussage. Gebrannte Poesie, unleserlich, voller Geheimnisse und doch höchst eindrucksvoll. Auch bei ihrer zweiteiligen Arbeit „geschichtet und geschnürt“ ist dieser poetische Gestaltungswille sehr schön sichtbar: aus Porzellan und geschöpftem Papier entstehen schriftliche Gedankenpäckchen, die durch einen roten (Bind-)Faden zusammengehalten werden und reichlich Assoziationsmöglichkeiten bieten. Ebenfalls aus Porzellan und Papier besteht die wiederum zweiteilige Arbeit „gewebt“ – hier habe ich allerdings ein bisschen den Eindruck, der Schalk von Heidi Degenhardt steckt hinter dieser Arbeit: Guckt mal, man kann mit Porzellan alles, auch weben...
Eine weitere „Unfarbe“ kommt mit Schwarz ins Degenhardt’sche Spiel: „black nest“ zeigt auf’s Neue ihren faszinierenden Umgang mit Material. Hier hat sie ein Nest aus Moos in Porzellan getunkt, bearbeitet und bei 1240 Grad in ihrem noch recht neuen Brennofen gebrannt. Auch „game over“ ist dunkel gearbeitet, auch hier fasziniert die Formenvielfalt der polierten Keramik. Eine erdig, kraftvoll-schwere Bodeninstallation, die in starkem Gegensatz zu der filigranen Porzellanleichtigkeit steht und doch, ganz stimmig, eben die mindestens zwei Seiten der künstlerischen Arbeit einer Heidi Degenhardt zeigt. Für das an einen übergroßen Kinderkreisel erinnernde Keramikteil ist das Spiel vorbei – für ihn dreht sich nicht mehr viel, er bleibt am Boden.
Im Gegensatz zu der schöpferischen Gestaltungskraft einer Porzellan- und Kunstversteherin wie Heidi Degenhardt: bei ihr hat man den Eindruck, dass sie mit ihrer überbordenden Fantasie, ihres Muts zum künstlerischen Experiment und ihres ästhetischen Feingefühls gerade erst dabei ist, richtig durchzustarten. Diese Meinung vertrat übrigens auch die Fach-Jury, die ihr im Herbst 2020 den GEDOK FormART Elke und Klaus Oschmann Preis zuerkannt hat, - übrigens für die Arbeiten „Kapselfrucht“, „Porifera“ und „Zeitspuren“.
Herzlichen Dank für die Zeit, die Sie mir geschenkt haben und viel Freude beim anschließenden Rundgang!
Barbara Krämer, Vernissage-Rede „Porzellan, das weiße Gold“, Heidi Degenhardt, Osiander’sche Buchhandlung Reutlingen, 5.8.2021